Alex Latotzky

Claude os, aperi oculo

Lesen Sie hier aus der Zeitschrift idea/Spektrum Nr.44 vom 28. Oktober 2009

Geboren hinter Gittern

Hunderte Kinder kamen zwischen 1945 und 1950 in sowjetischen Speziallagern zur Welt. Offiziell existierten sie nicht. Ein Vermerk auf der Häftlingskarte der Mutter – mehr Hinweise auf ihre Existenz gab es nicht. Hunderte Kinder wurden Schätzungen zufolge zwischen 1945 und 1950 in sowjetischen Speziallagern in der Sowjetischen Besatzungs-Zone (SBZ, dem damaligen Mitteldeutschland bzw. der späteren DDR) geboren. Diejenigen, die überlebten, erblickten die Welt außerhalb von Zelle und Stacheldraht erstmals, als die Lager 1950 aufgelöst wurden. Doch für viele begann dann die nächste Odyssee: Sie wurden von ihren Müttern getrennt. Ein Wiedersehen gab es oft erst nach Jahren – dann als Fremde. Ein Beitrag von Matthias Pankau und Thomas Kretschel (Fotos).

Sachsenhausen bei Berlin.

Alexander Latotzky kehrte 1990 erstmals an den Ort seiner frühen Kindheit zurück. Das ehemalige Konzentrationslager der Nationalsozialisten war nur wenige Wochen nach der „Befreiung“ im Mai 1945 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD in das Speziallager Nr. 7 umfunktioniert worden. Insgesamt gab es in der Sowjetischen Besatzungs-Zone zehn davon – u.a. auch in Bautzen und Buchenwald. Die Insassen waren oft willkürlich verhaftet worden. Ob schuldig oder unschuldig, wurde nur selten geprüft. „Operative Gruppen bekamen damals für jeden abgegebenen Häftling ein Kopfgeld“, erzählt Alexander Latotzky, der sich seit Jahren intensiv mit diesem Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte beschäftigt. Das führte dazu, dass das Speziallager Nr. 7 bereits Ende 1945 mit mehr als 12.000 Häftlingen seine volle Belegungsstärke erreicht hatte. Bis zu seiner Auflösung im März 1950 waren mehr als 60.000 Personen inhaftiert, davon 2.000 Frauen. Über 12.000 von ihnen starben an Krankheit, Hunger oder wurden umgebracht.

Vergewaltigung der Mutter angezeigt

Alexander Latotzkys Mutter wurde verhaftet, weil sie die Vergewaltigung ihrer eigenen Mutter durch zwei Rotarmisten angezeigt hatte. Dazu kam es so: Als sie im Februar 1946 in die gemeinsame Wohnung in Berlin-Schöneberg zurückkehrte, fand sie ihre Mutter halbnackt tot auf dem Boden liegen – vergewaltigt und anschließend erdrosselt. Die Täter – zwei Männer in sowjetischen Uniformen – lagen betrunken und schlafend im Nebenzimmer. Nur wenige Wochen nachdem die Staatsanwaltschaft in Moabit die Ermittlungen aufgenommen hatte, forderte die Sowjetische Militäradministration (SMAD) die Unterlagen an und gab sie nie zurück.

Zum Tode verurteilt

Kurz darauf wird Latotzkys Mutter wegen angeblicher Spionage für die Amerikaner verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Sie kommt in das Lager nach Torgau. Dort verliebt sich die junge Frau in einen russischen Wachsoldaten. Eine Beziehung ohne Zukunft. Denn obwohl der offizielle Slogan lautet „Von Sowjetmenschen lernen, heißt Siegen lernen“, sind derartige grenzübergreifende Liaisons nicht gewollt – von beiden Seiten! Als die Affäre rauskommt, ist die junge Frau bereits schwanger – mit Alexander. Der Vater wird zu sechs Jahren Zwangsarbeit verurteilt und einen Tag vor der Geburt seines Sohnes 1948 nach Sibirien deportiert. Alexanders Mutter sagte man, er sei zum Tode verurteilt worden und schickt sie zur Entbindung ins Gefängnis nach Bautzen.

15 Jahre Gefängnis

Von dort werden Mutter und Kind nur wenige Wochen später ins Speziallager nach Sachsenhausen verlegt. Dorthin kommen alle Frauen „mit geringer Haftstrafe“ – gemeint sind 15 Jahre und weniger. Es gibt zwei Baracken, in denen Dutzende Mütter mit ihren Kindern hausen. Die Frauen müssen sehen, wie sie ihre Kleinen durchbringen. Zusätzliche Nahrungsrationen für die Kinder gibt es nicht. Geschlafen wird bis 1947 auf Holzpritschen ohne Decken und ohne Matratze – ob Sommer oder Winter. Viele überleben die katastrophalen Haftbedingungen nicht. Makaber: Hin und wieder dürfen sich die Mütter aus der Kleidung der Toten Sachen aussuchen, aus denen sie dann Leibchen und Windeln für ihre Kinder nähen.

Schweigelager

„Doch das Schlimmste war nicht die Kälte oder der Hunger. Das Schlimmste für alle war das Nichtstun“, erzählt Latotzky. Zwar galten die Lager offiziell als Arbeitslager, doch waren sie in Wahrheit Schweigelager, in die keine Nachricht von außen drang und in denen Arbeit ein Privileg für nur Wenige war. So waren auch die Frauen zum permanenten Nichtstun verurteilt. Nicht wenige zerbrachen seelisch daran. Doch die inhaftierten Mütter waren eine eingeschworene Gemeinschaft. Starb etwa eine Mutter, nahmen sich andere Frauen ihres Kindes an. Erlag wiederum ein Kind den Haftbedingungen, wurde der Mutter vielfach die Verantwortung für ein anderes Kind übertragen.

Taufen im Speziallager

Ein Lichtblick für viele Häftlinge war der Dezember 1949, als in dem Lager der erste Gottesdienst stattfand. „Der Kirche war es gelungen, der Führung der jungen DDR dieses Zugeständnis abzuringen“, erzählt Latotzky. Der damalige Berliner Bischof Otto Dibelius soll die Gelegenheit auch dazu genutzt haben, die hinter Gittern geborenen Kinder zu taufen. Auch Alexander Latotzky selbst soll dabei gewesen sein. Offizielle Unterlagen darüber hat er bei seinen bisherigen Recherchen jedoch nicht finden können.

Seid lieb zu meinem Sohn ...

Als das sowjetische Speziallager ein Jahr später geschlossen wird, kommen Alexander und seine Mutter in das berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck (Sachsen). Da die Haftanstalt mit 1.600 Häftlingen hoffnungslos überfüllt ist, werden die Kinder von den Müttern in Nacht- und Nebelaktionen getrennt. Offiziell heißt es, die Kinder würden medizinisch untersucht. In Wirklichkeit werden sie auf Laster verladen und in Kinderheime gebracht. Alexander Latotzky – damals zwei Jahre alt – wird bei einem zweiten Transport mitgenommen. Da die Kinder der anderen Frauen nicht zurückgekehrt sind, ahnt seine Mutter, dass sie ihren Sohn nicht so schnell wiedersehen wird. Sie steckt ihm einen Zettel in die Tasche, auf dem steht: „Seid lieb zu Sascha! (Kosename für Alexander – Anm.d.Red.) Er hat immer in meinen Armen geschlafen.“ Der kleine Junge landet wie dutzende andere Kinder auch zunächst in einem Krankenhaus der Diakonie in Leipzig. Von dort beginnt eine mehrjährige Odyssee durch mehrere Kinderheime. Das Ziel ist überall das gleiche: Die Kinder zu systemtreuen Bürgern zu erziehen. Dabei geht die DDR subtil vor. So erzieht sie die Kinder im Glauben, das Höchste für ein Kind sei, Mitglied in den Pionierorganisationen oder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zu werden, verweigert ihnen aber gleichzeitig diese Mitgliedschaft. Zur Begründung hieß es, ihre Eltern hätten dem Land als Systemfeinde Schande bereitet. „Auf diese Weise steigerten sie unsere Ablehnung der eigenen Eltern und lösten die Familienbande“, erklärt Latotzky.

Erpressung: Mitarbeit für die Stasi

1954 lebt Latotzky für kurze Zeit bei einer Familie, die ihn aufnehmen will. Die Mutter wird in der Haft davon unterrichtet und ist völlig verzweifelt. Sie fürchtet, ihren Sohn endgültig zu verlieren und willigt ein, als IM für die Stasi zu arbeiten. Dazu wird die gelernte Russisch-Dolmetscherin 1956 entlassen und soll für den russischen Geheimdienst KGB als Spitzel nach Westberlin gehen. Hier soll sie ukrainische Exilorganisationen sowie die Orthodoxe Kirche ausspionieren. Ihr Sohn muss jedoch als Geisel in der DDR zurückbleiben. Schließlich ist man sich nicht sicher, dass die Mutter ihren Auftrag sonst auch erfüllen wird. Von Westberlin aus versucht sie auf verschiedenen Wegen zunächst erfolglos ihren Sohn zu sich zu holen. Dann schreibt sie an den Staatspräsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, und bittet darum, ihr den kleinen Alexander zurückzugeben. Und die Staatsführung lenkt tatsächlich ein.

Meine Mutter – eine fremde Frau

Im Januar 1957 ist es so weit. Der damals Neunjährige erinnert sich: „Eine Frau hatte mich von Seiffen im Erzgebirge, wo ich zuletzt im Kinderheim war, nach Berlin gebracht. Dort standen wir am S-Bahnhof Friedrichstraße und warteten bis schließlich nur noch wir und eine andere Frau dastanden. Die fragte: Ist das Alex? Als ich nickte, nahm sie mich an der Hand und wir fuhren gemeinsam bis nach Friedenau ohne ein Wort zu wechseln. Dort angekommen, schickte sie mich eine Treppe hinunter, als mir plötzlich eine kleine Frau entgegengestürmt kam und mich umarmte. Sie weinte die ganze Zeit und sagte, sie sei meine Mutter. Doch für mich war sei eine fremde Frau, die ich siezte.“ Es ist kein Wiedersehen zwischen Mutter und Sohn. Es ist ein Kennenlernen.

DDR-Unrecht hat niemanden interessiert

Als der KGB kurz darauf erfährt, dass sämtliche Spitzelberichte der Mutter, erfunden waren, bricht er die Beziehungen zu ihr ab. Der Preis: Mutter und Sohn leben fortan in ständiger Furcht. Selbst bei Klassenfahrten, die durch das Staatsgebiet der DDR führen, fährt Alexander nicht wie seine Klassenkameraden mit dem Bus, sondern fliegt mit dem Flugzeug. Als er 17 ist, stirbt seine Mutter mit gerade mal 41 Jahren an den Folgen der jahrelangen Haft. Mit ihr stirbt auch Alexanders Erinnerung an seine Kindheit. „Im Westen der 60er und 70er Jahre gab es andere Themen als das Unrecht in der DDR“, sagt er nüchtern. „Das hat niemanden interessiert. Ich habe es verdrängt, wollte auch nicht ständig daran denken. Sonst hätte man sich ja den Strick nehmen können.“ Er studiert Kunst und Sport, wird Rugbyspieler, schafft es bis in die Bundesliga, wird schließlich erster Trainer der Frauen-Nationalmannschaft. Erst als die Mauer fällt, holt ihn die Vergangenheit ein. Am Tag der deutschen Wiedervereinigung - dem 3. Oktober 1990 - fährt er mit seiner Frau und den beiden Kindern nicht wie tausende andere Bürger im Freudentaumel ans Brandenburger Tor, sondern nach Sachsenhausen.

Tränen statt Freudentaumel

„Während ich über das Gelände gelaufen bin, habe ich die ganze Zeit nur geweint“, erzählt er. „Da wurde mir klar, dass ich mich der Vergangenheit stellen muss.“ Latotzky beginnt, in den Archiven der Gedenkstätte Sachsenhausen zu forschen. Schon bald wird deutlich, dass er mit seinem Schicksal nicht allein steht. „Auf der Suche nach meiner Kindheit bin ich über zahlreiche andere Kinder gestolpert, die das gleiche erlebt haben.“ Mehr als 90 hat er inzwischen gefunden. Seit 1999 treffen sie sich einmal jährlich. Dennoch wundert sich Latotzky, der wie seine Mutter inzwischen von den Russen offiziell rehabilitiert wurde, dass ihr Schicksal bisher wissenschaftlich kaum angegangen wurde. „Vielleicht müssen wir noch ein paar Jahre warten bis die großen Gruppen abgearbeitet sind und dann endlich Zeit ist für uns Kinder.“ Erste Schritte sind allerdings getan: Seit 2001 erinnert ein Museum in der ehemaligen Zone II des Lagers Sachsenhausen auch an das Schicksal der hinter Gitter Geborenen. Und im September ließ das Land Brandenburg ein sieben Meter hohes Kreuz aufstellen, das an der Westseite des Geländes auf einem der drei großen Massengräber des Lagers mahnend in den Himmel ragt.

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

 


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